StartPilotentippsBlogPauls PilotentippsPauls Pilotentipp #18: „Geiz ist geil“ – oder: Über die Wertigkeit des Stoffes, aus dem unsere Träume sind…

Pauls Pilotentipp #18: „Geiz ist geil“ – oder: Über die Wertigkeit des Stoffes, aus dem unsere Träume sind…

Mich fasziniert immer wieder die Leichtigkeit unserer Luftsportart, mit einem einfachen Stück Stoff über dem Kopf in die Luft zu kommen: Nur etwa 5 bis 6 kg Material reichen aus, uns den Menschheitstraum leben und fliegen zu lassen. Einfach (und) genial!

Wirklich einfach? 

Nun ja – bei genauer Betrachtung steckt eine Unmenge an Ingenieurskunst und handwerklichem Geschick darin, dass aus Stoff, Faden, Schnüren und ein paar wenigen mechanischen Bauteilen ein vollständiges Luftfahrtgerät wird, das auch noch als das sicherste aerodynamische Fluggerät überhaupt gilt.

Ich habe mir von meiner Frau bei der Vorbereitung dieses Beitrages erzählen lassen, aus wieviel Teilen sie einen Rock zusammennäht: Es sind 4 bis 8 Stoffteile – je nach Komplexität des ausgewählten Bekleidungsstückes. Ausgehend davon, dass ein Rock nur sehr selten fliegt, hat es mich auch interessiert, aus wieviel Stoffteilen ein Gleitschirm besteht: Wir sehen ja das Gebilde nur als Ganzes – aber da wird doch mehr dran sein?! Sicher sind es mehr als 8 Stoffteile – aber wieviele mehr?

Etwa 1100 bis 1300 einzelne Stoffteile sind es! 

Vorne, hinten, innen, außen, kreuz und quer, hin und her!

Und diese Teile müssen vorher exakt geschnitten, mit dem richtigen Garn millimetergenau zusammengenäht und mit anderen Bauteilen (Verstärkungen, Ösen, Schnüren,….) kombiniert werden! Einiges wie das Schneiden der Einzelteile geht heute maschinell – Laser-Schneidemaschinen zerteilen den Stoff exakt und weitgehend automatisiert. Doch dann sind eben die Teile zusammenzunähen – und das geht nur in akkurater Handarbeit.

Eine nochmalige Nachfrage bei meiner Frau ergab, dass nach etwa 10 Minuten Zuschnitt ein Rock (aus 4 bis 8 Teilen) in rund 3 bis 4 Stunden anziehfertig zusammengenäht ist – falls ich nicht unterbreche und andauernd nachfrage, wann es (endlich) was zu essen gibt.

Und wie lange dauert es für einen Gleitschirm? 

Alleine für den automatisierten Zuschnitt der Stoffteile benötigt der Gleitschirmproduzent etwa 6 Stunden. An weiteren 6 bis 7 Arbeitstagen (à 8 Stunden) wird das Grundgerüst des Gleitschirms zusammengenäht.

Nochmal so viel Zeit wird benötigt, um alle Leinen zuzuschneiden, zu spleißen, vernähen, sortieren und einzuschlaufen. Bis zur Endkontrolle vergehen damit insgesamt etwa 90 bis 100 Arbeitsstunden, am Herstellungsprozess sind dabei etwa 12 bis 16 Mitarbeiter beteiligt.

Wer sich von den angegebenen Werten und Größenordnungen überzeugen möchte, dem sei der sehr nett gemachte Film empfohlen! Sehenswert! In gut vier Minuten kann man die gesamte Produktion eines Gleitschirms miterleben.

Nicht zu vergessen ist auch der nicht unerhebliche Aufwand für Konstruktion, Entwicklung und Zulassung eines Gleitschirms, womit ebenfalls mehrere Mitarbeiter über längere Zeiträume beschäftigt sind, bevor ein neues Modell überhaupt in Serie gehen kann.

Bei mir persönlich verursacht dieser Herstellungsaufwand einen ungeheuren Respekt. 

Gerade dann, wenn ich natürlich auch noch erwarte, ein qualitativ perfektes Produkt über mir zu haben, das mich immer (und auch noch nach einigen Flugstunden) sicher in die Luft und auf den Boden zurückbringen soll.

Ich betrachte, seitdem ich mich mit diesem Thema nochmal intensiv auseinandergesetzt habe, meinen Gleitschirm aus einem anderen Blickwinkel. Ja, er war erstmal „gefühlt teuer.“ Aber der Schirm ist es in der Nachbetrachtung einfach wert (die ausführliche und auf meine individuellen fliegerischen Ambitionen abgestimmte Beratung dazu übrigens auch).

Und selbst wenn ich mir einen Schirm in der qualitativen Luxus-Oberklasse und meinen Wunschfarben gönne, fliege ich damit immernoch wesentlich günstiger als mit allen anderen Luftsportgeräten.

Ach, und überhaupt:

Schirmsalat 🙁

Er (der Schirm) ist es auch wert, gepflegt zu werden! Egal, ob es sich um die eigene, eine Schulungsausrüstung oder um einen Testschirm handelt.

Anfang der Woche hat sich meine Ingenieursseele vor Schmerz gewunden: Im Bild ein Test-Schirm, welchen wir bei Papillon einem Kunden zur Verfügung gestellt hatten.

So wie im Foto rechts ersichtlich, kam der Schirm bei der Nachkontrolle im Flugcenter aus dem Verpackungssack heraus. Gequält, geschunden und lieblos weggestopft!

Ein Wertgegenstand aus 1200 kunstvoll zusammengenähten Teilen – zerknüllt und unsachgemäß behandelt. Wie für eine Mülltüte bestimmt sah es aus. Für mich völlig unverständlich.

Abgeleitet davon meine Empfehlung an alle Piloten: 

Auch wenn der Flügel über uns „nur“ ein Sachgegenstand ist, sollte er uns den Aufwand wert sein, sorgsam mit ihm umzugehen. Detaillierte Angaben über den Zustand deines Schirmes kannst du dem Check-Protokoll entnehmen, das zum Beispiel der Luftfahrttechnische Betrieb Wasserkuppe bei jedem Schirmcheck ausstellt.

Dann können wir mit diesem Stoff auch weiterhin noch lange und sicher unsere Träume verwirklichen!

Paul Seren

Paul Seren
ist Papillon-Fluglehrer, Dipl.Ing. der Luft- und Raumfahrttechnik, Mitglied im DHV-Lehrteam, begeisterter Flugsportler der ersten Stunde und Tandempilot.

In seinem Blog „Pauls Pilotentipps“ informiert er in loser Folge über Wissenswertes und Aktuelles rund ums Gleitschirmfliegen.

paul@papillon.de

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