In den theoretischen Prüfungsfragen, aber auch in der Praxis-Ausbildung hören wir am Funk immer wieder den Hinweis: „Achte auf deinen Anstellwinkel“, oder „Pass auf, dass dein Anstellwinkel nicht zu groß wird.“
Ja toll, und wie soll ich nun darauf achten? Wo ist das Anstellwinkelmessgerät denn? Wie groß muss der Anstellwinkel sein, wenn ich ihn gar messen könnte? Was kann ich überhaupt tun, dass der Anstellwinkel im flugförderlichen Sinn angepasst wird?
Der Anstellwinkel ist vornehmlich erst einmal eine an der Geometrie (dem Profil) des Luftfahrtgerätes und der anströmenden Richtung der Luftteilchen festgelegte konstruktionelle Größe. Hierzu wird als am Profil des Gleitschirms eine gerade Linie von der Profilnase bis zur hinteren Kante „gedacht“ – die sogenannte Profilsehne:
Der Winkel zwischen dieser Sehne und der Anströmrichtung ist der jeweilige Anstellwinkel:
Je nachdem, mit welchem Anstellwinkel diese Profil angeströmt wird, ändern sich Fluggeschwindigkeit und Sinkgeschwindigkeit: Ist der Anstellwinkel hoch, wird der Auftrieb eher hoch sein, aber eben auch der Widerstand. Wird der Anstellwinkel niedriger, wird der Auftrieb geringer und in bestimmten Anstellwinkelbereichen auch der Widerstand.
Die Abhängigkeit der Auftriebs-/Widerstandsänderung ist nicht linear und kann nur in einem begrenzten Umfang erfolgen: Ist der Anstellwinkel zu hoch, wird die umströmende Luft nicht mehr anliegen – der Aufrieb kann nicht mehr ausreichend durch die umströmenden Luft erzeugt werden.
Und in der Gegenrichtung? Ist der Anstellwinkel zu gering, wird unser konstruktionell eher „weicher“ Gleitschirmflügel nicht mehr den notwendigen Innendruck aufbauen können, die Kappenöffnung nicht mehr im optimalen Anströmbereich liegen und eher die Tendenz haben „einzuklappen.“
Soweit so klar?! Aber wie messen wir den Anstellwinkel? Die Antwort: Wir messen ihn überhaupt nicht, sondern wir orientieren uns an den beiden genannten Geschwindigkeiten: Der Fluggeschwindigkeit gegenüber der umströmenden Luft und der Sinkgeschwindigkeit.
Die Abhängigkeit dieser beiden Geschwindigkeiten wird in der sogenannten „Geschwindigkeitspolare“ aufgetragen:
Unser Gleitschirm ist von der Werksseite so eingestellt, dass er ohne Betätigung der „Bremsleinen“/Steuerleinen eine Trimmgeschwindigkeit hat. Zu dieser Trimmgeschwindigkeit gehört eine entsprechende Sinkgeschwindigkeit.
Diese Trimmgeschwindigkeit ist in den meisten Fällen die Geschwindigkeit, bei der das Verhältnis von Fluggeschwindigkeit und Sinkgeschwindigkeit das Optimum erreicht: Wir haben hier das beste „Gleitverhältnis“.
In der Praxis: Bei Windstille kommen wir mit dieser Bremsleinenstellung von einer vorgegeben Höhe am weitesten. Im konkreten Beispiel der Abbildung A wäre diese die Fluggeschwindigkeit von 36 km/h und einer dazugehörenden Sinkgeschwindigkeit von 1,4 m/s (5,04 km/h). Dies entspricht einem Gleitverhältnis von 36/5,04 = 7,1. Aus einer Höhe von 1 km kämen wir mit unserem Gleitschirm über 7 km weit.
Nehmen wir nun unsere Bremsleinen in die Hand, können wir die Vorwärtsgeschwindigkeit verringern. Gleichzeitig erhöht sich der Auftrieb soweit, dass wir in einer uns allen bekannten Armstellung den Wert des geringsten Sinkens erreichen: „Arme Schulterhoch.“ Der Gleitschirmflügel hat hier den größten Innendruck, er ist kappenstabil, wir sind im sichersten Flugbereich unseres Gleitschirms unterwegs.
Erhöhen wir den Bremsleinenzug weiter, wird der Auftrieb zwar höher, aber der Widerstand nimmt nun merklich zu, der Anstellwinkel wird höher! Das Gleitverhältnis wird deutlich schlechter und wir kommen in den gefährlichen Bereich der Minimalfahrt. Im konkreten Beispiel beträgt das aktuelle Gleitverhältnis nur noch die Hälfte des besten Gleitverhältnisses. Wir kommen nicht mehr so weit – und sind im Bereich des gefährlichen Strömungsabrisses:
Von daher: Es lohnt sich – außer bei der Landung – prinzipiell nicht, den Anstellwinkel über die Bremsleinen so stark anzustellen – die Sinkgeschwindigkeit erhöht sich wieder, der Gleitwinkel wird grottenschlecht und wir sind nahe am Bereich des Strömungsabrisses, den wir nur bei der Landung zum Ablegen des Schirmes benötigen.
Paul Seren
ist Papillon-Fluglehrer, Dipl.Ing. der Luft- und Raumfahrttechnik, Mitglied im DHV-Lehrteam, begeisterter Flugsportler der ersten Stunde und Tandempilot.
In seinem Blog „Pauls Pilotentipps“ informiert er in loser Folge über Wissenswertes und Aktuelles rund ums Gleitschirmfliegen.